28.04.2011

Baden-Württemberg
"Grün-Rot" fällt
der Anti-Atom-Bewegung in den Rücken

Recycling 2011 in Baden-Württemberg Stuttgart (LiZ). Wenig interessant ist meistens, was an wohlfeilen Versprechungen in Partei-Programmen und Koalitions-Verträgen geboten wird. Landesregierungen können die Einlösung solcher Versprechungen schließlich jederzeit unter Hinweis auf das Haushaltsdefizit auf unbestimmte Zeit hinausschieben. Interessant ist jedoch um so mehr, was in einem Koalitions-Vertrag fehlt. Noch vor wenigen Tagen wurde in den Mainstream-Medien verkündet, die neue "grün-rote" baden-württembergische Landesregierung wolle auch im "Ländle" die Tauglichkeit von Tonschichten für ein atomares Endlager untersuchen lassen. Voraussetzung sei allerdings "der definitive Ausstieg aus der Atomenergie". Im Koalitions-Vertrag jedoch ist von diesem Junktim keine Rede mehr.

Bekanntlich stellt sich die deutsche Anti-Atom-Bewegung nicht gegen eine Endlagersuche, sondern fordert die Einhaltung der Reihenfolge: Zunächst müssen die Atomkraftwerke stillgelegt sein, dann kann über einen Endlager-Standort entschieden werden. Die Begründung für diese Reihenfolge ist leicht verständlich: Denn solange Atomkraftwerke betrieben werden, besteht ein enormer Druck, auch eine untaugliche Lagerstätte - wie beispielsweise den Salzstock unter Gorleben - als atomares Endlager festzulegen. Hinzu kommt, daß es nach der Festlegung eines atomaren Endlagers auf jeden Fall heißen wird, nun sei ja das Hauptargument gegen die Atomenergie weggefallen - und also können Atomkraftwerke bedenkenlos weiter betrieben werden.

Als es vor wenigen Tagen vermeldet wurde, "Grün-Rot" wolle nun auch in Baden-Württemberg auf die Endlagersuche gehen, hieß es gleichzeitig beschwichtigend: Voraussetzung hierfür sei "der definitive Ausstieg aus der Atomenergie". Atomkraft-GegnerInnen fragten sogleich, was denn nun unter "definitiv" zu verstehen sei. So ist von Seiten der "S"PD mittlerweile häufig von einem "Atom-Ausstieg bis 2020" die Rede. Als definitiv könnte jedoch auch das verstanden werden, was von der derzeit in Berlin regierenden "schwarz-gelben" Koalition irgendwann in den kommenden Monaten beschlossen wird. Kaum mehr die Rede ist von dem von "Rot-Grün" im Jahr 2000 verkündeten "Atom-Ausstieg", der angeblich eine Stillegung der deutschen Atomkraftwerke bis 2022 oder 2023 vorsah (was jedoch auf Täuschung beruhte).

Im "grün-roten" Koalitions-Vertrag (hier dokumentiert), ist von einem solchen Junktim - also, daß zuerst ein Atom-Ausstieg erfolgt/versprochen sein muß, bevor es um ein atomares Endlager gehen kann, keine Rede mehr. Hier (auf Seite 33) heißt es lediglich: "Wir halten es für erforderlich, dass für die hoch radioaktiven Abfälle baldmöglichst ein geeignetes Endlager zur Verfügung steht." Und dies unter der suggestiven Kapitel-Überschrift "Atomkraft - Nein Danke!" Während in Berlin der Atom-Ausstieg weiter verzögert wird, sorgt nun also die baden-württembergische "grün-rote" Landesregierung dafür, daß "baldmöglichst" das wichtigste Argument der Atomkraft-GegnerInnen beseite geräumt wird. Damit fällt sie der Anti-Atom-Bewegung in den Rücken.

Daß es dem designierten "grünen" Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann nicht etwa um ein sicheres Endlager geht, sondern darum, die Endlager-Frage "baldmöglichst" abzuräumen, zeigte er bereits deutlich in einem Interview mit der 'Badischen Zeitung' (20. November 2010). Darin war zu lesen, daß sich Kretschmann bereits eingehend mit den Gepflogeheiten der Durchsetzung eines atomaren Endlagers im Nachbarland Schweiz beschäftigt hat. In der Schweiz geht es übrigens auch um ein Endlager in einer Tonschicht, die eine völlig unzureichende Dicke aufweist. Nachdem die Durchsetzung eines Endlagers für hochradioaktiven Müll in der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten am hartnäckigen Widerstand der Bevölkerung gescheitert war, versucht es die dort zuständige NAGRA mittlerweile mit einem Konzept der "Bürgerbeteiligung". Dieses neue Vorgehen der NAGRA wird von der Schweizer Anti-Atom-Bewegung als undemokratisch zurückgewiesen, da diese Form der "Bürgerbeteiligung" eine echte Mitsprache ausschließe. Kretschmann kündigte jedoch bereits in diesem Interview im vergangenen November an, ein "transparentes Verfahren mit Bürgerbeteiligung nach Schweizer Muster" durchführen zu wollen.

Welche Methoden Kretschmann zur Verfügung stehen, um ein von der Bevölkerungs-Mehrheit abgelehntes Projekt durchzusetzen, hat er mit der "Geißler-Schlichtung" im vergangenen Herbst bereits vorgeführt. Nach dieser Inszenierung einer Schlichtung kehrte sich das Verhältnis von BefürworterInnen zu GegnerInnen des Mega-Projekts "Stuttgart 21" in Baden-Württemberg - wenn auch nicht in Stuttgart - um. Wenig bekannt ist außerhalb Baden-Württembergs, daß Kretschmann im Vorfeld der "Geißler-Schlichtung" die Bewegung gegen "Stuttgart 21" spaltete - zuvor hatte sich eine Mehrheit für einen Bau-Stop als Vorbedingung für Gespräche mit Landesregierung und Bahn AG ausgesprochen - und daß Kretschmann den früheren Generalsekretär unter Helmut Kohl, Heiner Geißler, als Schlichter vorgeschlagen hatte. Wenig bekannt ist auch, was bereits am 17. November durch eine Veröffentlichung des 'stern' aufgedeckt wurde: Interne Unterlagen der Bahn beweisen, daß der nach außen hin behauptete Kostenrahmen nicht eingehalten werden kann und daß dies die Betreiber-Seite genau weiß. Wie bei einer echten Schlichtung war Mitte Oktober vereinbart worden, daß sämtliche Fakten auf den Tisch kämen. Nach dieser Veröffentlichung war klar, daß es sich bei der "Geißler-Schlichtung" nur um eine Farce handelte. Dennoch wurde das Spektakel mit enormer Unterstützung der Mainstream-Medien bis Ende November durchgezogen.

Wenig bekannt ist in der Öffentlichkeit auch, daß der in der "Schlichtung" als Trostpflaster vereinbarte Stresstest von "Stuttgart 21" nicht etwa - wie es zunächst verlautbart worden war - von unabhängigen GutachterInnen, sondern von der Bahn AG selbst durchgeführt werden soll. Am 2. Februar 2011 kam zu Tage, daß der amtierende baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus zusammen mit Bahn-Chef Rüdiger Grube den Vertrag einseitig brach und nun doch nicht wie vereinbart neutrale WissenschaftlerInnen mit der Berechnung der Leistungsfähigkeit des geplanten unterirdischen Stuttgarter Bahnhofs beauftragt werden. Der Fahrgastverband 'Pro Bahn' wies erbost in einer Pressemitteilung darauf hin, daß schon während der "Schlichtung" der Hang der Bahn AG zur Faktenschönung überdeutlich geworden sei.

Dennoch versucht Kretschmann weiterhin zu suggerieren, bei dem in den kommenden Monaten von der Bahn AG auszuführenden "Stresstest" könne es zu einem Aus für "Stuttgart 21" kommen. Damit soll Zeit gewonnen werden. Denn mittlerweile hat sich auch in breiten Bevölkerungskreisen herumgesprochen, daß bei dem für Herbst vorgesehenen Volksentscheid - allein wegen des in der Verfassung vorgesehenen undemokratischen Quorums - eine Niederlage für die "Stuttgart-21"-GegnerInnen zu erwarten ist. Doch auch hier baute Kretschmann bereits vor: So sagte er im vorigen Monat gegenüber der 'taz': "Der Gedanke erfüllt mich mit Grausen, daß wir ein Projekt selber realisieren müssen, von dessen Unsinnigkeit wir seit 15 Jahren überzeugt sind. Aber auch das gehört im Zweifel zur direkten Demokratie dazu."

Beim Thema Atomenergie sind noch andere Sätze, die im Koalitions-Vertrag fehlen, entscheidend. So ist keineswegs vorgesehen, daß die "grün-rote" Landesregierung entsprechende Sicherheits-Auflagen erteilt, um den Weiterbetrieb der Reaktorblöcke II der baden-württembergischen Atomkraftwerke Neckarwestheim und Philippsburg zu stoppen. Kretschmann schickt sich an, als erster "grüner" Ministerpräsident in die Geschichte einzugehen, der den Weiterbetrieb der Reaktoren II der baden-württembergischen AKW Neckarwestheim und Philippsburg bis 2016 garantierte. Dennoch heißt es in den Schlagzeilen der Mainstream-Medien über den Koalitions-Vertrag etwa: "Rascher Ausstieg aus der Atomenergie." Auch eine Klage gegen den Weiterbetrieb der beiden Reaktorblöcke ist nicht vorgesehen und kann allenfalls noch durch großen Druck der Anti-Atom-Bewegung durchgesetzt werden. Der Koalitions-Vertrag enthält an dieser Stelle jedoch einen lauen Witz. Vermutlich erstmals ist in einem Koalitions-Vertrag schriftlich festgehalten, daß nun nicht mehr die Opposition, sondern die Regierung Forderungen erhebt: Ausgerechnet von "Schwarz-Gelb" will die Landesregierung nun einen "beschleunigten Atom-Ausstieg" fordern. Dabei wurden bereits durch den "Atom-Ausstieg" des Jahres 2000 die Laufzeiten verlängert und nicht etwa gekürzt.

Wenig Beachtung fand im Zusammenhang mit dem Koalitions-Vertrag der Umgang der neuen baden-württembergischen Landesregierung mit einem der größeten Konzerne im "Ländle", mit dem AKW-Betreiber und Strom-Konzern EnBW, der zu den "Großen Vier" zählt, die den Strommarkt in Deutschland beherrschen. Bereits wenige Tage nach der Wahl hatte sich "Grün-Rot" darauf geeinigt, daß die frühere Bundesvorsitzende der Pseudo-Grünen, Gunda Röstel, einen Aufsichtsratsposten bei EnBW erhält. (Siehe unseren Bericht vom 19. April) Bereits im Jahr 2000 war Röstel nach dem erfolgreichen Deal mit den "Großen Vier", der in den Mainstream-Medien als Atom-Ausstieg gefeiert wurde, mit einem Managerposten bei der E.on-Tochter Gelsenwasser versorgt worden. Die neue Rolle Röstels besteht offenbar darin, dem baden-württembergischen AKW-Betreiber ein grünes Mäntelchen umzuhängen, im PR-Jargon wird dies als Greenwashing bezeichnet.

Übrigens wurden zur selben Zeit eine ganze Reihe weiterer Aufsichtsratsposten beim Atomstom-Konzern EnBW neu besetzt - und zwar mit Personal, an dessen Auswahl noch die "schwarz-gelbe" Landesregierung unter Stefan Mappus beteiligt war. Damit wird die energiepolitische Ausrichtung des Konzerns für Jahre fortgeschrieben. Eine Umwandlung von EnBW in einen Ökostrom-Anbieter ist allein von daher kaum zu erwarten. Mehr als Greenwashing ist bei EnBW ohnehin nicht machbar. Bereits vor Jahren hatte der bekannte Solar-Pionier Hermann Scheer vor der Illusion gewarnt, große Energie-Konzerne könnten zu Ökostrom-Anbietern transformiert werden. In seinem wegweisenden Buch 'Energieautonomie' schrieb Scheer im Jahr 2005: "Es spricht jedoch entschieden mehr dagegen als dafür, dass nunmehr die großen Energiekonzerne die treibenden Kräfte werden könnten. (...) Investitionen in Großkraftwerke und Infrastrukturen haben Amortisationszeiten von zwei bis drei Jahrzehnten. Die jeweiligen einzelnen Investitionen erfolgen nie zum gleichen Zeitpunkt. Die Zahl vorfinanzierter Großinvestitionen ist immer ungefähr so groß wie die der abgeschriebenen. (...) Die Lokomotivführerrolle für erneuerbare Energien wird auch in Zukunft nicht aus dem konventionellen Energiesystem kommen. Es sei denn, wir würden einen Bummelzug für ausreichend halten."

Als Trostpflaster soll wohl der im Koalitions-Vertrag angekündigte Ausbau der Windenergie an der Stromerzeugung in Baden-Württemberg auf zehn Prozent bis 2020 dienen. In Sachsen-Anhalt konnte selbst unter einem "schwarzen" Ministerpräsidenten bis heute ein Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung von über 40 Prozent durchgesetzt werden. Realistisch muß diese Ankündigung offenbar so verstanden werden, daß in Baden-Württemberg der Ausbau der Windenergie weiterhin gebremst werden soll - wenn auch nicht so rigoros wie unter Mappus. 10 Prozent jedenfalls sind vor dem Hintergrund der Ankündigung, Baden-Württemberg zum "Musterland für erneuerbare Energien" werden lassen zu wollen, nur als schlechter Witz zu verstehen.

Auch bei den Finanzen versucht sich "Grün-Rot" mit dem Koalitions-Vertrag ein solides Image zu geben. Doch nur wer genau hinschaut erkennt: Auch unter "Grün-Rot" sollen jedes Jahr neue Schulden aufgenommen werden - der "Schuldenberg" wächst also voraussichtlich über das bereits vorhandene Minus von 45 Milliarden Euro hinaus. An eine effiziente Besteuerung der Großkonzerne wagt sich "Grün-Rot" nicht heran - dies wäre die einzige realistische Chance, den Landeshaushalt zu sanieren. Doch offenbar legt es auch "Grün-Rot" darauf an, die Einlösung gegebener Versprechungen unter Hinweis auf das Haushaltsdefizit auf unbestimmte Zeit hinausschieben zu können. Lassen wir eine Formulierung im Koalitionsvertrag, in der es heißt "wir streben an", einmal beiseite, kann allenfalls folgende Aussage als verbindlich gewertet werden: "In der Haushaltspolitik des Landes werden wir die Schuldenbremse des Grundgesetzes, d.h. die strukturelle Nullverschuldung des Landeshaushalts erreichen und danach einhalten." Die zitierte Schuldenbremse ist erst ab 2019 verpflichtend. Wie im Titel ersichtlich gilt der vorliegende Koalitions-Vertrag jedoch nur bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2016.

In einem Fall wurde ein fehlender Satz im Koalitions-Vertrag sogar von den Mainstream-Medien bemerkt: In einem unter JournalistInnen zirkulierenden Vorentwurf zum Koalitions-Vertrag war noch "die Absenkung des Wahlalters für Landtagswahlen auf 16 Jahre" enthalten. Dies war auch schon von der Nachrichtenagentur dpa verbreitet worden. So konnte kaum mehr übergangen werden, daß diese Versprechung nun im Koalitions-Vertrag nicht mehr zu finden war. "Ein redaktionelles Versehen," erklärt ein Sprecher der Pseudo-Grünen entschuldigend.

Daß sich auch beim Thema Verkehr im Bundesland mit den Zentralen von Daimler und Porsche kaum etwas gegenüber der Vorgänger-Regierung ändern soll, ist weniger dem Koalitionsvertrag als einer Äußerung des designierten Superministers (für Wirtschaft und Finanzen) Nils Schmid zu entnehmen: "Jede baden-württembergische Landesregierung hat Benzin im Blut," sagte Schmid am 25. April in aller Öffentlichkeit. Sollten es die Pseudo-Grünen jedoch für den Erhalt ihres Image als nötig erachten, ein wenig in Richtung auf eine Verkehrs-Wende zu drängen, besteht immer noch die Möglichkeit auf altvertraute Rollenspiele zurückzugreifen. Dann kann sich Kretschmann von Schmid, der nun schließlich für das Haushaltsdefizit verantwortlich sein wird, zurückpfeifen lassen.

Und als Placebo kann "Grün-Rot" sich auch auf die von den Umweltverbänden längst als umweltpolitischen Irrweg gekennzeichnete Förderung der "Elektromobilität", also die Verschwendung von Steuergeldern für die Produktion von Autos mit Elektromotoren verlegen. So heißt es im Koalitions-Vertrag bereits, Baden-Württemberg solle "zum Leitmarkt für Elektromobilität" werden.

Politisch Interessierte können sich die ein oder andere vielversprechende Formulierung aus dem "grün-roten" Koalitions-Vertrag notieren, um dann einmal im Jahr 2016 Bilanz zu ziehen und Soll und Haben miteinander zu vergleichen.

So heißt es nun etwa in Artikeln der Mainstream-Medien anerkennend, "Grün-Rot" wolle das bisherige Ziel, bis 2013 für 34 Prozent der Kleinkinder unter drei Jahren einen Betreuungsplatz anzubieten, übertreffen. Dabei ist selbst im Koalitions-Vertrag der Hinweis zu finden: "Dabei muss berücksichtigt werden, dass das früher einmal vereinbarte Ausbauziel eines Versorgungsgrades von 34 Prozent teilweise schon heute deutlich überschritten wird." Wer also im Jahr 2016 eine Bilanz der nun antretenden Landesregierung ziehen möchte, sollte sich nicht an den in den Mainstream-Medien genannten Vorgaben, sondern beispielsweise an einem Vergleich mit anderen Bundesländern orientieren.

Messen lassen müssen wird sich die neue Landesregierung im Jahr 2016 auf jeden Fall an ihrem Versprechen, daß der Unterrichtsausfall an den Schulen abgebaut und die Krankheitsreserve erhöht wird. Doch Aufsehen erregte Kretschmann bereits kurz nach der Landtagswahl, als er bekannt gab, daß er entgegen dem vor dem 27. März verkündeten Versprechen die Zahl der LehrerInnen in Baden-Württemberg verringern will. Der Verband Bildung und Erziehung, der Philologenverband und die GEW warfen "Grün-Rot" am 12. April vor, ihre Wahlversprechen zu brechen. Scharfe Kritik kam auch vom Landeselternbeirat. Schuldmindernd muß Kretschmann allerdings zugebilligt werden, daß WählerInnen, die Wahlversprechen für bare Münze nehmen, längst den Kontakt zur Realität verloren haben.

Im Koaltitions-Vertrag findet sich nun auch die Ankündigung, "Grün-Rot" werde eine "Verfasste Studierendenschaft" einführen, "die auch über die Belange der Hochschule hinaus mit einem entsprechenden Mandat an der gesellschaftlichen Willensbildung teilnimmt." Ob dies dem lange geforderten "allgemeinpolitischen Mandat" gleichkommt, bleibt abzuwarten.

Und ob tatsächlich - wie versprochen - die Studien-Gebühren abgeschafft werden, ist letztlich eher eine Haushalts- denn eine bildungspolitische Frage. Denn wie hatte ein Journalist in einem Kommentar am 30. März der neuen Landesregierung empfohlen? "Mit der chronisch prekären Haushaltslage ließe sich sogar begründen, warum man die Studiengebühren jetzt gerade nicht abschafft. Dass sie unsozial seien, stimmt ohnehin nicht, eher das Gegenteil. Wenn die Regierung stattdessen die Zinsen für die Studiendarlehen heruntersubventioniert, verlöre die Gebühr jeden Rest Abschreckung."

Beim Thema "freie Radios" geht es im Koalitions-Vertrag ganz offensichtlich nur darum, den Schein zu erwecken, es gehe um eine zukünftige Förderung. Denn die zentrale Forderung, daß freie Radios auf der Frequenz, die ihnen zugewiesen wurde, auch tatsächlich empfangen werden können (bekanntlich ist beispielsweise der Empfang von 'Radio Dreyeckland' im Bereich Freiburg auf 102,3 MHz äußerst schlecht), wird im Koalitionsvertrag übergangen.

Ebenfalls kein Wort ist im Koalitions-Vertrag zur Bespitzelung linker Gruppen durch den baden-württembergischen "Verfassungsschutz" zu finden. Zur NPD heißt es im Koalitionsvertrag witziger Weise: "Wir werden deshalb prüfen, welche Vorgehensweise gegen die NPD rechtlich geboten ist, insbesondere ob die Voraussetzungen für die Einleitung eines neuerlichen Verbotsverfahrens vorliegen." Wissen Kretschmann und Schmid etwa nicht, daß sie mit der Landesregierung auch die Gewalt über den baden-württembergischen Geheimdienst ("Vefassungsschutz") übernehmen und daß sie also in Zukunft dafür verantwortlich sind, wenn - gerade in Baden-Württemberg - durch die personelle Durchmischung der Leitungsebene der NPD mit BeamtInnen des "Verfassungsschutzes" ein Haupthindernis besteht, das ein Verbot der NPD durch das Bundesverfassungsgericht bislang verhinderte?

Da es laut Nils Schmid in Baden-Württemberg vorrangig um das Automobil geht und hierzulande angeblich Benzin durch die Adern fließt, sei diese Metapher hier einmal aufgegriffen: Tatsächlich nimmt eine Landesregierung eher im Auspuff als hinter dem Lenkrad dieses Autos ihren Platz ein. Jenseits aller Versprechungen ist anzunehmen, daß sie keinerlei Einfluß auf die Fahrtrichtung des Gefährts noch auf den Bezinstrom ausübt, der zum Motor fließt - geschweige denn, daß sie den Motor durch einen anderen ersetzen könnten.

Es muß damit gerechnet werden, daß die Bilanz der "grün-roten" Landesregierung zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2016 noch verheerender ausfällt als jene von "Schwarz-Gelb". Verantwortlich hierfür werden jedoch nicht in erster Linie Winfried Kretschmann oder Nils Schmid zu machen sein, sondern zum einen die wirklich Mächtigen im "Ländle". Denn wie schon Kurt Tucholsky wußte: "Sie meinen, sie hätten die Macht, dabei sind sie nur an der Regierung." Zum anderen jedoch hängt die Zukunft Baden-Württembergs wesentlich davon ab, ob sich die Bevölkerung täuschen läßt oder ob sie für die Realisierung dessen kämpft, was ihr versprochen wurde.

 

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Anmerkungen

      Dokumentation
      des Koalitionsvertrages "Grün-Rot" Ba-Wü 2011

Siehe auch unsere Artikel:

      Grünes Recycling?
      Greenwashing bei EnBW (19.04.11)

      Landtagswahl
      Recycling in Baden-Württemberg (27.03.11)

      Stuttgart 21
      "Schlichterspruch" ad absurdum geführt
      Stresstest einseitig aufgekündigt (8.02.11)

      Parteitag der Pseudo-Grünen
      Gorleben als Verhandlungsmasse (21.11.10)

      Stuttgart 21 - Schlichtung
      oder schlicht Volksverdummung? (1.12.10)

      stern: Erneut Millionenschwindel bei Stuttgart 21
      "Schlichtung ist Verdummung" (17.11.10)

      Stuttgart 21
      Verrat der Funktionäre (15.10.10)

      Aus für AKW Neckarwestheim I in hundert Tagen?
      ...oder ein Dornröschenschlaf? (11.01.10)

      Desinformation in der 'Badischen Zeitung'
      Die Schweizer Endlager-Suche (18.06.09)