21.01.2011

Datenspeicher Küchentisch
"Zensus 2011" wenig durchdacht

Nur Schafe lassen sich zählen Berlin (LiZ). Erneut kommt eine Lücke in der organisatorischen Vorbereitung der für Mai geplanten Völkszählung zum Vorschein. Nachdem bereits vor zwei Wochen bekannt wurde, daß keine rechtlichen Möglichkeiten vorgesehen wurden, um Nazis davon abhalten zu können, als ehrenamtliche ZählerInnen zu agieren, wurde heute publik, daß während des auf mehrere Wochen vorgesehenen Einsatzes der ZählerInnen die eingesammelten Daten völlig ungesichert sind: Die "Zensus-2011"-Fragebögen können auch zu Hause auf dem Küchentisch zwischengelagert werden.

Über zwanzig Jahre hatten die deutschen Behörden seit dem zuletzt im Jahr 1987 mißglückten Versuch einer Volkszählung Zeit, um das Vorhaben in einem zweiten Anlauf im Sinne des Datenschutzes "wasserdicht" zu gestalten. Doch über die bereits im vergangenen Jahr bekannt gewordene Kritik von DatenschützerInnen hinaus, zeigen sich nun innerhalb von nur zwei Wochen seit dem offiziellen Start der Suche nach ehrenamtlichen "Erhebungsbeauftragten" - bundesweit werden schätzungsweise 80.000 InterviewerInnen benötigt - erhebliche organisatorische Mängel.

Zunächst in Sachsen, mittlerweile bundesweit, ruft die NPD ihre Mitglieder und SympathisantInnen dazu auf, sich als ehrenamtliche InterviewerInnen zur Verfügung zu stellen, um so mehr über die "politische Stimmungen im Lande" zu erfahren und Linke ausforschen zu können. Ganz unverhohlen heißt es in den Aufrufen: "Der besondere Reiz solcher Haushaltsbefragungen liegt darin, daß man auch Eindrücke von den persönlichen Lebensverhältnissen des einen oder anderen 'Antifaschisten' bekommen kann." An die hilflosen Reaktion in den Statistikämtern und Parteizentralen wird deutlich, daß keine gesetzliche Vorsorge geschaffen wurde, Neonazis an der aktiven Beteiligung am "Zensus 2011" zu hindern. Mehr ist nicht vorgesehen, als daß die "Erhebungsbeauftragten" eine vorgesehene kurze Schulung durchlaufen und eine "Mahnung" auf den Weg mitbekommen, die erhobenen Daten auch ja geheim zu halten. Eine nachträgliche Verschärfung der Bestimmungen ist nicht möglich - außer der Termin für die Volkszählung würde verschoben und ein neues Gesetz formuliert, das daraufhin den üblichen Gesetzgebungsweg durchlaufen müßte.

Nun hat Sandra Müller vom 'AK Zensus' eine weitere organisatorische Lücke entdeckt: "Es ist nicht klar, ob die Bögen abends bei den Erhebungsstellen abgegeben werden müssen." Denn das Ausführungsgesetz zur Volkszählung regle nicht, wie die "Erhebungsbeauftragten" mit den ausgefüllten Bögen umzugehen haben. Es ist also durchaus denkbar, daß die ausgefüllten "Zensus-2011"-Fragebögen wochenlang beispielsweise auf dem heimischen Küchentisch zwischengelagert werden. Damit wäre aber einem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet.

Auch in diesem Punkt zeigen die Behörden eine erstaunliche Hilflosigkeit, die zugleich das weitverbreitete Fehlen eines kritischen Bewußtseins im Hinblick auf Datenschutz dokumentiert. So erklärte etwa Rolf Strohwasser, Koordinator der Erhebungsstelle Berlin, auf eine entsprechende Anfrage, die "Erhebungsbeauftragten" seien zum "sachgerechten Umgang" mit den Fragebögen verpflichtet. Auf Nachfrage mußte er jedoch eingestehen, daß eine zwischenzeitliche Aufbewahrung im privaten Haushalt des "Erhebungsbeauftragten" nicht ausgeschlossen werden könne.

Sandra Müller beabsichtigt daher, eine Klage vor dem Verwaltungsgericht einzureichen.

 

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Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      Internationale Liga für Menschenrechte
      unterstützt Volkszählungs-Boykott (8.01.11)

      Volkszählung "Zensus 2011"
      Die NPD will helfen (6.01.11)

      Volkszählungs-GegnerInnen
      legen Verfassungsbeschwerde ein (16.07.10)

      Daten-Krake ELENA eingefroren
      Moratorium für elektronischen Einkommensnachweis
      (6.07.10)

      google und Zensur
      Deutschland weit vorne (21.04.10)

      Internet-Sperren und Cecilia Malmström
      Unfähig zur Diskussion (15.04.10)

      Internet-Zensur nun aus Brüssel?
      Vorwand Kinderpornographie und erschreckende
      Ignoranz gegenüber Sachargumenten (29.03.10)

      Vorwurf gegen Postbank
      Waren Daten von KundInnen nicht geschützt? (26.10.09)

      Mielke geistert weiter durch deutsche Telefone
      Zahl der Abhör-Aktionen steigt dynamisch (23.09.09)

      Demo "Freiheit statt Angst" in Berlin
      20.000 gegen Überwachungswahn (13.09.09)

      'aspekte'-Sendung mit Kritik an Internet-Sperren-Gesetz
      Ex-Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem
      äußert schwerwiegende Bedenken (1.08.09)

      Vorläufige Bilanz des Überwachungs-Skandals
      bei der Bahn
      Keine Beweise gegen Mehdorn (14.05.2009)

      Gegen politische Zensur des Internets
      Online-Petition gegen Internetsperre
      am ersten Tag mehr als 16.000 UnterzeichnerInnen
      (5.05.09)

      Datenschutz-Affaire bei Drogeriekette Müller?
      Systematische "Krankenrückkehrgespräche" (18.04.09)

      Mit Stop-Schild gegen Kinderpornos?
      Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur gegründet
      (17.04.09)

      Bahn-Datenaffäre: "Brandbeschleuniger"
      Mehdorn sorgt mit Briefwechsel für Eskalation (11.03.09)

      Bundesverfassungsgericht stoppt Wahl-Computer
      Die Manipulierbarkeit von
      elektronischen Speichersystemen,
      'Wikipedia' und Internet-Umfragen (3.03.2009)

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