16.03.2018

16. März 1968
Das Massaker von My Lai

Foto vom Massaker von My Lai - Foto: Ron Haeberle - Lizenz: gemeinfrei
Nach der Niederlage Frankreichs als Kolonialmacht im Indochina-Krieg (Schlacht von Dien Bien Phu, 1954) und der Teilung Vietnams in die Staaten Nord- und Südvietnam mit dem 17. Breitengrad als Grenze, baute die US-Regierung den unbeliebten südvietnamesischen Diktator Ngo Dinh Diem als anti-kommunistischen Statthalter in Südvietnam auf. Bereits ab 1953 waren die USA militärisch in Südvietnam präsent.

Zwischen 1957 und 1961 eskalierte ein Bürgerkrieg ist Südvietnam. Der südvietnamesischen Diktator Ngo Dinh Diem versuchte mit drakonischen Maßnahmen, mobilen Sondergerichten und willkürlichen Erschießungen jede Opposition zu unterdrücken. Die Vietminh - ursprünglich ein gegen die französische Kolonialmacht kämpfendes Bündnis nationalistischer und kommunistischer Gruppen, das noch bis 1945 von der US-Regierung unterstützt worden war - begannen in Südvietnam einen Guerillakrieg gegen die Diktatur. Am 20. Dezember 1960 vereinten sich die Vietminh mit weiteren Oppositionsgruppen zur 'Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams' (NLF). Ihr Ziel war der Sturz der Diktatur Ngo Dinh Diems, die Vertreibung des US-Militärs und die Bildung einer Koalitionsregierung. Klar war allerdings bereits zu diesem Zeitpunkt, daß kommunistische Kräfte in der NLF dominant waren. Nach und nach erhielt die NLF - mehr oder weniger verdeckt - immer mehr materielle und militärische Unterstützung aus dem kommunistisch beherrschten Nordvietnam, sowie aus der UdSSR und China.

Der seit Januar 1961 amtierende US-Präsident John F. Kennedy stellte mit seiner antikommunistischen "Rollback-Politik", die er von seinem Amtsvorgänger Dwight D. Eisenhower übernommen hatte, die Weichen zur Eskalation des Vietnamkriegs. Kennedy ordnete verdeckte Militäroperationen gegen Nordvietnam an und erhöhte die Zahl der US-Militärberater in Südvietnam bis 1962 auf 16.575. 1962 flog die US Air Force bereits 50.000 Luftangriffe gegen vietnamesische Dörfer, die als "Vietcong"-Dörfer galten, und setzte dabei auch Napalm ein. Als "Vietcong" wurden sowohl alle kommunistischen Kämpfer als auch die gesamte NLF bezeichnet.

Ab 1952 hatte US-Präsident Harry S. Truman die Domino-Theorie propagiert, wonach der Kommunismus - also UdSSR und China - ideologisch unvermeidbar nach Weltherrschaft strebe, so daß eine kommunistische Regierungsübernahme in einem beliebigen Staat der Welt eine Kettenreaktion in seinen Nachbarstaaten bewirken würde. Der sukzessive Fall eines Staates nach dem anderen - wie Dominosteine - bedrohe letztlich die USA. Kennedys Außenminister Dean Rusk und US-Kriegsminister Robert McNamara befürchteten 1961 einen Sieg des Kommunismus in ganz Indochina.

Bis 1964 eskalierten die USA und die UdSSR weiter die Situation in Südvietnam zu einem Stellvertreter-Krieg. Mit Hilfe des inszenierten "Tonkin-Zwischenfalls" im August 1964, mit dem in der US-Öffentlichkeit der Eindruck erweckt wurde, die USA würden angegriffen, konnte Kennedys Nachfolger, US-Präsident Lyndon B. Johnson vom geheimen und verdeckten zum offenen Eingreifen übergehen. Ohne formelle Kriegserklärung ließ Johnson ab Februar 1965 Nordvietnam bombardieren. Ab März 1965 entsandte er - entgegen seinen Wahlkampf-Versprechen vom November 1964 - immer mehr Bodentruppen nach Südvietnam, die dort die NLF bekämpften. Daraufhin unterstützten die UdSSR und China Nordvietnam auch offiziell. Ab 1964 griff der Vietnam-Krieg auf Laos, ab 1970 auf Kambodscha über.

Bis Anfang 1968 hatten die USA ihr Truppenkontingent in Vietnam auf über eine halbe Million Soldaten aufgestockt. Trotzdem war es nicht gelungen, die NLF-Guerilla zu schlagen. Am 31. Januar 1968 startete die NLF die Tet-Offensive. Dabei griffen rund 84.000 Kämpfer zeitgleich zahlreiche Provinz- und Distrikthauptstädte an. Mit dieser Offensive konnte die NLF in der Bilanz zwar keinen militärischen Erfolg erringen, sie trug jedoch wesentlich zur propagandistischen Niederlage der USA bei, da diese trotz gigantischer zahlenmäßiger und waffentechnischer Übermacht sich in endlose Kämpfe verwickelte und das US-Militär sich zu immer brutalerem Vorgehen verleiten ließ. Symptomatisch war die über die "westlichen" Medien verbreitete Aussage eines US-Befehlshaber: "Wir mußten Ben Tre zerstören, um es zu retten." Die von US-Seite behauptete moralische Überlegenheit und das vorgebliche Ziel, "westliche" Werte wie Freiheit und Demokratie in Vietnam zu verteidigen, wurden immer unglaubwürdiger. Die öffentliche Exekution des NLF-Kämpfers Nguyen Van Lém per Kopfschuß durch den südvietnamesischen General Nguyen Ngoc Loan am 1. Februar 1968 vor den laufenden Kameras "westlicher" Reporter ging als Pressefoto rund um die Welt.

Foto von der Exekution Nguyen Van Lems - Foto: anonym - Lizenz: gemeinfrei

Bis März 1968 starben bei der Tet-Offensive über 14.000 ZivilistInnen, davon 6.000 in Saigon, 25.000 wurden verwundet und 670.000 obdachlos. Der von Nordvietnam und der NLF erhoffte Aufstand der Südvietnamesen blieb allerdings aus.

Die Tet-Offensive bewirkte einen Meinungsumschwung in den USA. Die überraschende Offensivkraft der NLF zerstörte die Hoffnung vieler US-BürgerInnen auf ein baldiges Kriegsende und Johnsons Glaubwürdigkeit. Die WählerInnen der "democratic party" fühlten sich von der Regierung irregeführt, die jahrelang den baldigen Sieg nach der jeweils nächsten Eskalation versprochen hatte. In regelmäßigen landesweiten Gallup-Umfragen, ob der US-Kriegseinsatz ein "Fehler" gewesen sei, antworteten 1965 noch 61 Prozent der befragten US-BürgerInnen mit Nein, 1966 waren es 50 Prozent, 1967 sank die Zahl auf 44, 1968 auf 34 und 1971 schließlich auf 24 Prozent.

Die US-Militärführung unter General Westmoreland hatte mit zweideutigen Sprachregelungen und entsprechender Vorzugsbehandlung blutrünstiger Offiziere dafür gesorgt, daß in der Truppe zum einen bekannt war, daß auf eine Unterscheidung zwischen Zivilbevölkerung und NLF-Kämpfern keinen Wert gelegt wurde und zum anderen kein US-Soldat befürchten müsse, jemals wegen Kriegsverbrechen belangt zu werden. Um den Druck auf die einfachen Soldaten zu erhöhen, mußten am Abend jeden Tages beim sogenannten body count die Leichen gezählt und nach oben gemeldet werden.

Am 16. März 1968 erhielt eine Gruppe US-amerikanischer Soldaten der Task Force Barker den Auftrag, ein Dorf in der Provinz Quang Ngai einzunehmen und nach NLF-Kämpfern zu durchsuchen. Obwohl keine NLF-Kämpfer entdeckt wurden und es auch keine Hinweise auf eine Unterstützung des "Vietcong" durch die Dorfbevölkerung gab, begannen die Soldaten mit Vergewaltigungen und ermordeten nahezu alle BewohnerInnen des Dorfes - 504 Männer, Frauen und Kinder. Auch sämtliche Tiere wurden getötet. Nur wenige Soldaten verweigerten den Befehl zum Mord.

Erst der US-Hubschrauberpilot Hugh Thompson, der sich auf einem Aufklärungsflug befand, zwang die Soldaten, elf Frauen und Kinder zu verschonen: Er drohte, seine Bordschützen Glenn Andreotta und Lawrence Colburn mit dem MG auf die amerikanischen Soldaten feuern zu lassen, wenn diese weiter töteten. Dann brachte er die Geretteten in Sicherheit. Für ihr Eingreifen wurde die Hubschrauberbesatzung ausgezeichnet.

Auf der anderen Seite versuchte das US-Militär zugleich, das Massaker geheim zu halten. Nach offizieller Darstellung hieß es zunächst, es seien im Rahmen von Kampfhandlungen gegen den "Vietcong" in My Lai "rund 20 Zivilisten unbeabsichtigt ums Leben gekommen".

Im April 1969 sandte der Kriegsveteran Ronald Ridenhour, der von dem Massaker während seiner Dienstzeit gehört hatte, Briefe an verschiedene Kongress-Abgeordnete und an General Westmoreland. Es gab zwar keine öffentliche Reaktion, aber es wurde eine interne Untersuchung eingeleitet, die im September zur Anklage des während des Einsatzes befehlshabenden Offiziers William Calley führte. In einer Pressemitteilung des US-Kriegs-Ministeriums hieß es, Calley sei wegen Vergehen gegen eine nicht näher bestimmbare Zahl von südvietnamesischen Zivilisten angeklagt worden.

Die erste Berichterstattung fand im Mai 1969, 14 Monate nach dem Massaker statt, gab jedoch nur die verharmlosende offizielle Darstellung wieder. Als das Verteidigungsministerium mit seiner Pressemitteilung über die Anklage Calleys informierte, veröffentlichten die großen amerikanischen Zeitungen die Nachricht zwar, maßen ihr jedoch keinen besonderen Stellenwert bei.

Erst durch die Recherchen des investigativen US-Journalisten Seymour Hersh wurde die wahre Dimension des Massakers von My Lai der Öffentlichkeit bekannt. Doch zunächst wollten die großen US-Medien dessen Berichte nicht veröffentlichen. Deshalb überließ Hersh seine Berichte zum Massaker von My Lai im November 1969 der kleinen Nachrichten-Agentur Dispatch News Service. Diese Veröffentlichung fiel zufällig mit den großen Anti-Kriegs-Demonstrationen in Washington zusammen.

Erst später erschien im Life-Magazin ein ausführlicher Artikel über das Massaker von My Lai. Anschließend berichteten auch Newsweek und das Time-Magazin. Die Weltöffentlichkeit reagierte schockiert. Seymour Hersh bekam 1970 den Pulitzer-Preis für internationale Berichterstattung.

Für die Artikel von Seymour Hersh standen nun auch die Fotos von Ron Haeberle zur Verfügung. Haeberle war am 16. März 1968 in My Lai als offizieller Armeereporter dabei, um Belege für die als body count bezeichnete Militärstatistik des Pentagon zu liefern. Nach dem Massaker händigte Haeberle der Armeeführung vierzig Schwarzweißfotos aus. 18 Fotos, die er auf einem Farbfilm gemacht hatte, behielt er im März 1968 zunächst für sich. Die fotografierten Leichen wurden von den Offizieren als gefallene "Vietcong"-Kämpfer identifiziert. Tatsächlich waren jedoch an jenem Tag vor Ort keine Bewaffneten und es gab keinerlei Widerstand durch die DorfbewohnerInnen.

Foto vom Massaker von My Lai - Foto: Ron Haeberle - Lizenz: gemeinfrei

Nur vier Soldaten mußten sich vor einem US-Militärgericht für das Massaker von My Lai verantworten. Und nur der befehlshabende Offizier William Calley wurde am 31. März 1971 zu lebenslanger Haft verurteilt. Allerdings wandelte US-Präsident Richard Nixon bereits am darauffolgenden Tag die Haftstrafe in Hausarrest um, ehe er ihn 1974 vollends begnadigte.

 

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Anmerkungen

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