23.01.2011

Neo-Nazis wollen bundesweit schnüffeln
"Zensus 2011" bietet Einfallstor

Nur Schafe lassen sich zählen Kiel (LiZ). Auch in Schleswig- Holstein sorgt mittlerweile ein interner Aufruf der NPD für Wirbel. Die Neo-Nazis wollen sich als InterviewerInnen an der Volkszählung im Mai engagieren und dabei "mentale Befindlich- keiten" erforschen. Die Kieler "S"PD-Landtagsfraktion stellt sich dumm und fragt in einer Kleinen Anfrage an die Landesregierung nach Vorkehrungen, die "das Land gegen solche Versuche trifft." Dabei ist seit Wochen bekannt, daß es hierfür keine rechtliche Handhabe gibt.

Nicht nur in Sachsen und Schleswig-Holstein, sondern auch in Berlin, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen sind inzwischen die NPD-Aufrufe publik geworden. Ab Mai werden bundesweit rund 80.000 ehrenamtliche InterviewerInnen bei den für die Volkszählung ausgewählten Haushalten vorsprechen, um bis Ende Juli die Befragung anhand eines voraussichtlich 23-seitigen Fragebogens durchzuführen. Allein in Berlin werden für den "Zensus 2011" InterviewerInnen für 126.000 "Auskunftspflichtige" gesucht, die nach einem speziellen Verfahren repräsentativ ausgewählt wurden. Die Beantwortung der Fragen soll mit einem Bußgeld von bis zu 5000 Euro erzwungen werden. Doch es gibt keine rechtliche Handhabe, Neo-Nazis vom ehrenamtlichen Job als "Zensus-2011"-InterviewerInnen auszuschließen.

Städte und Kommunen suchen derzeit händeringend nach Freiwilligen, die den Job als ehrenamtliche "Erhebungsbeauftragte" - so die amtliche Bezeichnung der InterviewerInnen - übernehmen wollen. Und nun sorgen die Pläne der rechtsextremen NPD für Aufsehen, die offenkundig Mitglieder und SympathisantInnen mobilisiert, sich als "Erhebungsbeauftragte" bei der Volkszählung zu melden. Offenbar versuchen die Neo-Nazis so, den "Zensus 2011" für eigene Zwecke auszunutzen, an für ihre Parteiwerbung interessante Daten zu gelangen und zugleich Linke und Antifa auskundschaften zu können. So heißt es etwa in einem im Bundesland Sachsen verbreiteten NPD-Aufruf, besonders interessant sei ein bestimmter Stadtteil Dresdens, der als Hochburg der linksalternativen Szene und Antifa gilt. Die NPD in Mecklenburg-Vorpommern etwa sieht in einer ehrenamtlichen Beteiligung am "Zensus 2011" zudem die Chance, auf diese Weise "illegale Ausländer" aufzuspüren. Als Vorbild dient vermutlich das Vorgehen der "Hamburger Liste für Ausländerstop" bei der gescheiterten Volkszählung im Jahr 1987.

Marc Langentepe von der Lübecker Stadtverwaltung versucht abzuwiegeln: "Wir wissen von der Problematik und werden die Erhebungsbeauftragten überprüfen." Doch sicherlich weiß auch er, daß es dafür keine Handhabe gibt, da selbst ein Neo-Nazi nicht so dumm sein dürfte, seine wirklichen Absichten zu offenbaren. Völlig wirkungslos ist auch eine immer wieder in diesem Zusammenhang zitierte Passage aus dem Bundesstatistikgesetz, wonach von den InterviewerInnen "Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit" verlangt werde. Denn jedem muß klar sein, daß sich Neo-Nazis im Rathaus nicht mit dem Hinweis vorstellen werde, die Verschwiegenheitspflicht nicht einhalten zu wollen.

Thomas Giebeler, Sprecher des Kieler Innenministeriums meinte nun, es könnten zumindest "rechtliche Vorkehrungen" getroffen werden, um FunktionärInnen der rechten Partei von der Bewerbung zur "Zensus-2011"-Befragung auszuschließen. Doch neue Vorkehrungen können nicht geschaffen werden, ohne den Termin des "Zensus 2011" aufzugeben - und derzeit deutet nichts darauf hin, daß die "schwarz-gelbe" Bundesregierung das Vorhaben aufzuschieben gedenkt. Und die bestehenden Vorkehrungen greifen, solange Neo-Nazis ihre Absichten nicht zu erkennen geben, allenfalls im Falle von Vorstrafen.

Der sächsische Datenschutzbeauftragte Andreas Schurig erklärte am 11. Januar, es sei "höchst bedenklich", wenn sich eine im Landtag vertretene Partei "offen dazu bekennt, politische Gegner im Zensusverfahren ausschnüffeln zu wollen" und dazu aufrufe, gesetzliche Verschwiegenheits- pflichten zu unterlaufen. Doch Konsequenzen kann oder will er keine ziehen. Statt dessen äußerte er den wohlfeilen Rat, die Behörden sollten "auf bekannte und zuverlässige Verwaltungshelfer zurückzugreifen". Doch diese dürften - selbst bei einer Zwangsverpflichtung - bei weiten nicht ausreichen, um die für den "Zensus 2011" benötigte Zahl an InterviewerInnen zu stellen.

Und Sachsens "schwarzer" Innenminister Markus Ulbig machte sich komplett lächerlich, als er seine Absicht kundtat, die NPD generell von einer Mitarbeit auszuschließen. Zwar ist ihm nach eigener Aussage klar, daß die Neo-Nazis "gegen das gesetzlich fixierte Verwendungs- und Verwertungsverbot verstoßen" werden, doch zugleich müßte ihm auch klar sein, daß niemand gezwungen werden kann, seine Partei-Mitgliedschaft zu offenbaren. Und so verweist die NPD bereits frohgemut auf die "juristische Grauzone" hin, in der sich ein Ausschlußverfahren bewegen würde.

Hier noch ein Hinweis auf zwei kritische Info-Seiten:

www.vobo11.de
http://zensus11.de

 

LINKSZEITUNG

 

Anmerkungen

Siehe auch unsere Artikel:

      Datenspeicher Küchentisch
      "Zensus 2011" wenig durchdacht (21.01.11)

      Internationale Liga für Menschenrechte
      unterstützt Volkszählungs-Boykott (8.01.11)

      Volkszählung "Zensus 2011"
      Die NPD will helfen (6.01.11)

      Volkszählungs-GegnerInnen
      legen Verfassungsbeschwerde ein (16.07.10)

      Daten-Krake ELENA eingefroren
      Moratorium für elektronischen Einkommensnachweis
      (6.07.10)

      google und Zensur
      Deutschland weit vorne (21.04.10)

      Internet-Sperren und Cecilia Malmström
      Unfähig zur Diskussion (15.04.10)

      Internet-Zensur nun aus Brüssel?
      Vorwand Kinderpornographie und erschreckende
      Ignoranz gegenüber Sachargumenten (29.03.10)

      Vorwurf gegen Postbank
      Waren Daten von KundInnen nicht geschützt? (26.10.09)

      Mielke geistert weiter durch deutsche Telefone
      Zahl der Abhör-Aktionen steigt dynamisch (23.09.09)

      Demo "Freiheit statt Angst" in Berlin
      20.000 gegen Überwachungswahn (13.09.09)

      'aspekte'-Sendung mit Kritik an Internet-Sperren-Gesetz
      Ex-Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem
      äußert schwerwiegende Bedenken (1.08.09)

      Vorläufige Bilanz des Überwachungs-Skandals
      bei der Bahn
      Keine Beweise gegen Mehdorn (14.05.2009)

      Gegen politische Zensur des Internets
      Online-Petition gegen Internetsperre
      am ersten Tag mehr als 16.000 UnterzeichnerInnen
      (5.05.09)

      Datenschutz-Affaire bei Drogeriekette Müller?
      Systematische "Krankenrückkehrgespräche" (18.04.09)

      Mit Stop-Schild gegen Kinderpornos?
      Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur gegründet
      (17.04.09)

      Bahn-Datenaffäre: "Brandbeschleuniger"
      Mehdorn sorgt mit Briefwechsel für Eskalation (11.03.09)

      Bundesverfassungsgericht stoppt Wahl-Computer
      Die Manipulierbarkeit von
      elektronischen Speichersystemen,
      'Wikipedia' und Internet-Umfragen (3.03.2009)

      Aktionismus gegen Kinderpornographie
      zielt auf Zensur des Internets
      Im Visier ist das letzte Kommunikationsfeld
      für freie linke Nachrichten (1.02.09)

      ELENA - Eine gigantische Datenbank
      soll Angaben von 40 Millionen Beschäftigten umfassen
      (26.06.2008)

      ARD-Magazin 'Report':
      Meldedaten im Internet frei zugänglich (23.06.2008)

      Telekom schnüffelte in Eigenregie
      Staatsanwaltschaft ermittelt (24.05.2008)

      Big Brother hört mit
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      Bundesverfassungsgericht präsentiert größte
      Mogelpackung aller Zeiten: Das virtuelle Grundrecht
      (28.02.2008)

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